45 Jahre „Radikalenerlass“: „Subtile Wühlarbeit" ist nicht aufgefallen

Veröffentlicht: Montag, 09. Januar 2017

Düren. Am 28. Januar 1972 wurden durch Bundeskanzler Willy Brandt und die Regierungschefs der Bundesländer der sogenannte „Radikalenerlass“ beschlossen. Mit diesem sollten „verfassungsfeindliche Kräfte“ aus dem Öffentlichen Dienst ferngehalten werden. Der „Radikalenerlass“ kam für Viele einem Berufsverbot gleich und sorgte auch in Düren für Wirbel. Einer der ersten Betroffenen, auf den die Verordnung Anwendung fand, war Rutger Booß, damals Referendar am Gymnasium am Wirteltor in Düren.

Das Bertram-Wieland-Archiv lädt am 27. Januar 2017 zu einer Veranstaltung zum Thema "‘Radikalenerlass‘ und Berufsverbote - 45 Jahre danach“ mit Rutger Booß und weiteren Gästen ein. Wir dokumentieren an dieser Stelle die Berichterstattung der Dürener Lokalpresse zu einer Podiumsdiskussion zum „Fall Booß“ im Frühjahr 1972 und eine Zeitung einer Dürener Initiative gegen Berufsverbote aus dem Jahr 1975.

Dokument 1

Ein negatives Lehrstück angewandter Demokratie

Dürener Referendar wird nicht ins Beamtenverhältnis übernommen

Von ALFRED STOFFELS

Düren. –"Wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens sowie seiner religiösen oder politischen Anschauungen darf niemand benachteiligt oder bevorzugt werden." So steht es im Artikel 3 des Grundgesetzes. Ausgesprochen benachteiligt, und das wegen seiner politischen Anschauungen, fühlt sich allerdings der Studienreferendar Rutger Booß, dem gemäß Ministerpräsidentenerlass vom 27. Januar dieses Jahres wegen seiner DKP-Mitgliedschaft eine Übernahme in das Beamtenverhältnis verwehrt wurde.

Um die Hintergründe dieser einem Berufsverbot nahekommenden Maßnahme etwas auszuleuchten, veranstaltete die örtliche Schülermitverwaltung eine Podiumsdiskussion, an der der betroffene Rutger Booß selbst, Wolfgang Nelles vom Jungsozialisten-Unterbezirksvorstand Rurland, der Vorsitzende der DKP Düren-Jülich, Barthel Rankers, der Bezirksausschußvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Hans Günter Coenen, CDU-MdB Wolfgang Vogt und Manfred Schlegel, der Kreisvorsitzende der FDP, teilnahmen.

"Exemplarischer Vorgriff"

Booß, der seinen Fall nicht isoliert betrachtet haben will, bezeichnete die Maßnahme als "exemplarischen Vorgriff" innerhalb einer neu entfachten antikommunistischen Kampagne. Zur Zeit halte man es noch nicht für opportun, in Karlsruhe einen Verbotsantrag gegen die DKP zu stellen, deshalb versuche man, Kommunisten auf unauffälligere Art und Weise unschädlich zu machen. Er betonte, daß Kommunisten weder radikal noch extremistisch seien, daß sie vielmehr, voll und ganz das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, das ursprünglich antifaschistisch-demokratisch konzipiert gewesen sei, unterschreiben könnten. Insofern ergäben sich auch für kommunistische Beamte keine Loyalitätskonflikte. 

Ganz anderer Meinung waren allerdings Wolfgang Vogt und Manfred Schlegel, die fast identische Argumente vorbrachten. Ihrer Meinung nach ist es vollkommen ausgeschlossen, daß Anhänger einer verfassungswidrigen Partei im öffentlichen Dienst beschäftigt werden. Dabei müsse die Verfassungsfeindlichkeit nicht unbedingt festgestellt sein, Zweifel am, jederzeitigen Eintreten für die "freiheitlich-demokratische Grundordnung" rechtfertigen ihrer Ansicht nach schon die Entfernung aus dem öffentlichen Dienst.

Grundgesetz unterlaufen

Vehement setzte sich der Vorsitzende der DKP für seinen Parteifreund ein, etwas differenzierter, aber umso niveauvoller betrachtete Wolfgang Nelles. von den Jungsozialisten das Problem. Dadurch, daß bloße Zweifel an der Verfassungstreue schon für eine Entlassung ausreichten, werde ein eklatantes Maß an Rechtsunsicherheit erzeugt, das einer Demokratie nicht gerade gut zu Gesicht stehe. Durch den Ministerpräsidentenerlass werde das Grundgesetz, das in jedem Fall den Länderverfassungen vorgehe, unterlaufen. Die Verfassungsfeindlichkeit einer Partei müsse in jedem Fall nachgewiesen sein, bevor man deren Mitglieder irgendwelchen Repressionen aussetze. In diesem Zusammenhang wies er auf die haarsträubenden Äußerungen des ehemaligen Justizministers Benda hin, der ohne irgendwelche Skrupel empfohlen hatte, das Grundgesetz einfach zu ändern, wenn kein anderer Weg in Sicht sei.

Hans Günter Coenen von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft betonte, die Gewerkschaft stehe für jedes ihrer Mitglieder ein, ohne deren politische Ansichten teilen zu müssen. Im vorliegenden Fall gewährt die Gewerkschaft ihrem Mitglied Rutger Booß Rechtshilfe.

Nachdem die Fronten einigermaßen geklärt waren, wurde man grundsätzlich, was eine immer größere Entfernung vom Thema zur Folge hatte. Nicht zuletzt durch Diskussionsbeiträge des Publikums standen plötzlich die Vermögensverteilung in der Bundesrepublik, der Einmarsch in die Tschechoslowakei und sogar das 624-Mark-Gesetz zur Debatte. Das ursprüngliche Thema des Abends, ob der Ministerpräsidentenerlass verfassungswidrig sei, wurde nur noch ansatzweise diskutiert. Einige sachkundige Beiträge erlauben es trotzdem, ein Fazit zu ziehen. Im Laufe des Abends schälte sich immer mehr heraus, daß der zur Debatte stehende Vorfall nicht juristische, sondern rein politische Ursachen hat.  Es ist natürlich eine recht delikate Frage, ob man seine Kinder von einem Pädagogen erziehen lassen soll, der das kapitalistische Gesellschaftssystem nicht für allein seligmachend hält. Eine andere Frage ist es, ob das schon ausreicht, ihm deswegen sämtliche Qualifikationen zum Lehrberuf abzusprechen. Gerade Rutger Booß wurden von vorgesetzten Behörden beste Zeugnisse ausgestellt, und auch den Lehrerkollegen ist bis jetzt "subtile Wühlarbeit" seinerseits nicht aufgefallen. Jedenfalls steht er auf Grund eines mehr als anfechtbaren Erlasses auf der Straße. Zwar fehlte es nicht an guten Ratschlägen des CDU- und FDP-Vertreters. Er könne sich ja einen anderen Beruf aussuchen (Artikel 8 des Grundgesetzes garantiert das Recht der freien Berufswahl) oder den Rechtsweg einschlagen (Dauer: zwei bis sechs Jahre), aber dies ist mit Sicherheit nicht der Weisheit letzter Schluß. Eine Demokratie, die sich auf diese Art ihrer Kritiker erwehren muß, hat bestimmt noch einen langen Weg vor sich, bis man von ihr behaupten kann, daß sie den an sie gestellten Ansprüchen gerecht wird.

(Dürener Nachrichten vom 2. März 1972)

 

Ausschnitt aus der Dürener Zeitung vom 2. März 1972 (nicht Teil der unten stehenden Abschrift).

 

Dokument 2

Schutz vor Radikalen von links und rechts

Gespenstige Diskussion zum „Fall Rutger Boos“- Kommunistische Parolen zu seiner Verteidigung

Von Claus Happel

Düren. – Geister der Vergangenheit wurden in der Podiumsdiskussion zum "Fall Rutger Boos" so intensiv beschworen, daß das Podium sich teilweise in ein gespenstisches Tribunal verwandelte. Die überschulische Schülermitverwaltung hatte die Diskussion, die am Dienstagabend im Gemeindesaal der Evangelischen Gemeinde stattfand organisiert. Zweck der Veranstaltung: Solidarisierung mit dem Studienreferendar Rutger Boos, der als Kommunist nicht in den Schuldienst des Landes Nordrhein-Westfalen berufen wurde.

Mit falschen Angaben gelockt

Der Veranstaltung war der gescheiterte Versuch der Schülermitverwaltung des Naturwissenschaftlichen Gymnasiums vorausgegangen, für Rutger Boos einen Sympathiestreik an den Dürener Schulen zu organisieren. Die Mehrheit der Schülervertreter lehnte ab. So gesehen war die Podiumsdiskussion eine Veranstaltung der Schülerminderheit. Die Veranstalter taten sich entsprechend schwer, kritischen Fragern ihr Mandat zu erklären. Fragwürdig erschien auch die Methode, mit der die Veranstalter ihr Podium zusammenbekommen hatten. Sowohl der Sprecher der CDU, der Bundestagsabgeordnete Wolfgang Vogt, als auch FDP-Kreisvorsitzender Manfred Schlegel stellten fest, man habe sie gegenseitig mit angeblich festen Teilnahmezusagen der "politischen Konkurrenz" zur Veranstaltung gelockt. Beiden war nicht bekannt, daß auch der Kreisvorsitzende der DKP, Barthel Rankers, das Podium zieren würde. Dennoch waren der Christdemokrat und der Liberale bereit, die Meinung ihrer Partei zum "Fall Boos" darzulegen.

Wolfgang Vogt und Manfred Schlegel verteidigten den Erlaß der Ministerpräsidenten unter anderem mit dem Hinweis darauf, das Grundgesetz verpflichte die Bürger dieses Landes zur "kämpferischen Demokratie". Diese Verpflichtung beinhalte das Recht und die Pflicht des Staates, sich gegen Radikale von links und rechts zu schützen. Schlegel wehrte sich gegen jeden Versuch, Schüler zu indoktrinieren. Gegen diesen Versuch habe sich seine Partei in der Diskussion um die Konfessionsschule gewandt, und er könne es jetzt nicht dulden, daß Kommunisten Kinder in ihrem Sinne erziehen würden. Nach Ansicht Vogts haben die Väter des Grundgesetzes die Katastrophe von Weimar vor Augen gehabt und der Bundesrepublik eine Verfassung gegeben, die eine Synthese aus Freiheit und Schutz der Freiheit darstelle. Er rief dem Auditorium zu: "Die Väter der Verfassung waren keine liberalen Scheißer!"

Als Märtyrer stilisiert

Ob es dem Kommunisten Rutger Boos recht war oder nicht, Beiträge seines Parteifreundes Rankers und Diskussionsbeiträge aus dem Publikum stilisierten ihn zum Märtyrer für die Freiheit. Kreiskommunistenführer Rankers erklärte: "Wir Kommunisten haben das Grundgesetz immer mit Klauen und Zähnen verteidigt." Einwurf von Wolfgang Vogt: "Deshalb wurde dann wohl auch die KPD und die SRP als verfassungsfeindlich erkannt und verboten!" Das Wort "Verfassungsfeindlich" scheint für Rutger Boos ein Reizwort zu sein, er behauptete, dieses Wort stamme aus der Nazi-Zeit. In Komplizenschaft mit den Nazis brachte dann Kommunist Rankers Ministerpräsident Kühn und Bundeskanzler Willy Brandt. Rankers zog den Vergleich: "Auch 1933 fing der Faschismus damit an Kommunisten zu jagen. Das gleiche wiederholt sich heute.“

Sein Ausflug in die Vergangenheit wurde mit Beifall belohnt. Beifall brandete auch auf, als Rankers feststellte die Kommunisten hätten den höchsten Blutzoll in den „braunen KZs“ entrichtet. Eine Tatsache, die nicht zu bestreiten ist. Dennoch wies der Beifall aus, dass viele der kritischen Jugendlichen offenbar doch nicht so kritisch sind. Zeugnisse aus der trüben Vergangenheit zeigen, dass diese Kommunisten letztlich Opfer des Nazi-Terrors wurden, weil es ihnen nicht gelang in Deutschland damals schon „rote Kzs“ zu errichten. Denn damals war die KPD eine echte Filiale des Stalinismus. Lautete doch die Parole: „Laßt die Nazis erst mal an die Macht, haben sie abgewirtschaftet, sind wir am Zuge“

CDU in „rechte Ecke“ gerückt

Aber auch die neuere Geschichte war für Herrn Rankers ein willkommenes Übungsfeld. Empört rief er aus: "In Dürens Schulen gibt es heute noch Lehrer, die Königsberg als deutsche Stadt bezeichnen!" Beifall des Auditoriums dankte dem mutigen Mann diese Verurteilung des "Revisionismus". Fluchwürdig erschien den Kommunisten auch das Verhalten der CDU und FDP, denn Wolfgang Vogt und Manfred Schlegel nannten NPD und DKP in einem Atemzuge. „Wie kann man sich erdreisten uns mit den Totengräbern der Demokratie in einem Atemzug zu nennen?", fragte er voller Zorn. Mit diesen Totengräbern meinte Rankers nicht die Panzer, die den Freiheitswillen der Ungarn und Tschechoslowaken niederwalzten, sondern die NPD. Wahrscheinlich auch die CDU/CSU, denn in einer Presseerklärung versteigt sich seine Partei zu der Behauptung, die CDU/CSU stünde an der Spitze einer Kampagne der "Rechten", die sich letztlich nicht nur gegen Kommunisten, sondern auch gegen Sozialisten und Demokraten richte.

Noch nicht das letzte Wort

Was steht hinter dem "Fall Boos"? Eine Ablehnung des Schulkollegiums beim Regierungspräsidenten von Düsseldorf, den Studienreferendar zur Zeit in das Verhältnis eines Beamten auf Probe zu übernehmen. Die letzte Entscheidung über seine Einstellung hat jedoch Kultusminister Girgensohn zu fällen. Das letzte Wort ist also noch nicht gesprochen. Denn nach Ansicht des Ministerpräsidentenerlasses reicht die Mitgliedschaft in DKP und NPD nicht aus, den Weg in den öffentlichen Dienst zu versperren. Mit der Entscheidung ist, so der Pressesprecher des Kultusministers, in ungefähr vier Wochen zu rechnen. Dabei hat auch der Innenminister ein Wort mitzureden. Wörtlich sagte Pressereferent Niehl der DZ: "Der Erlaß hat den Spielraum des Kultusministers eingeengt." 

Kriterium für eine endgültige Ablehnung von Rutger Boos kann nach Meinung kompetenter Leute in Düsseldorf nur die Frage sein, ob Rutger Boos gegen die Verfassung gearbeitet habe oder nicht. Also wird dem Studienreferendar sein Recht - für das sich Juso-Unterbezirksvorstandsmitglied Wolfgang Nelles sehr nachdrücklich einsetzte - nicht vorenthalten. Filmte das ZDF also in Düren einen "Sturm im Wasserglas"? Wohl kaum, denn die Podiumsdiskussion machte deutlich, wie schwer es ist, diesen Staat zu schützen und wie schwer es ist, Kommunist zu sein und Lehrer werden zu wollen.

(Dürener Zeitung vom 2. März 1972)

 

Dokument 3

"Berufsverbote" - Zeitung der Dürener Initiative "Verteidigt die Grundrechte!"

(Die sechsseitige Zeitung befindet sich in der Sammlung des Bertram-Wieland-Archivs)

Veranstaltung am 27. Januar 2017 zum Thema "‘Radikalenerlass‘ und Berufsverbote - 45 Jahre danach“

 

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